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Über das Büchersammeln

Über das Büchersammeln

Γνῶϑι ϰαὶ ποίει

Eines Menschen Erinnerungen reichen zurück bis in seine frühe Kindheit, weiter nicht. Durch Bücher erfährt unser Horizont, schriftlich Überliefertes als Medium benutzend, Erweiterung in die Jahrhunderte vor unserer Geburt, und wir entdecken, daß damals Menschen lebten, die ihr Leben anders oder ähnlich ausrichteten, nie gleich, und wir lernen von ihnen weit mehr, als wir es von unseren Zeitgenossen je vermöchten, die wie wir befangen sind in ihrer ihnen eigenen Gegenwart. In Zeiten der Diskursverengung durch staatliche Propaganda, sogar Verfolgung Andersdenkender gerät die literarische Überlieferung zum Freiheitselixier.

In den Erstausgaben, in denen die noch frischen Intentionen ihrer Verfasser am besten wiedergegeben werden, in denen letzter Hand, die den Reifeprozeß des Lebens Ausdruck finden lassen, in all den gelesenen Büchern, jenen die vor uns durch Hände wanderten, mehr noch in den annotierten Exemplaren, oder in den durch Autographen und Widmungen bereicherten Werken — überall dort finden wir den Autor, finden wir ein Leben, wie er es erfuhr, finden wir Vorgänger, finden wir Leben, wie es sich seit Anbeginn von Sprache und Schrift durch die Zeiten entwickelte.

Und im Gehäuse des Buches, in seinem Einband, erkennen wir Handwerk, bisweilen dessen Meisterschaft und im besten Falle ein Kunstwerk. Dies vermittelt uns, daß es ein Mehr als nur Nützlichkeit gibt.

Sammeln ist ein Ausdruck von Willkür, denn nur unser Wille leitet uns auf diesem auswählenden, uns verändernden Streifzug durch die Zeiten. Befreit von der Pflicht eines vorgeschriebenen Pensums widmet sich unser Geist der Kür: der Konversation mit ausgesuchten, erlesenen Geistern, die sich in den Bücherregalen und Vitrinen versammeln, darauf warten, herausgezogen, aufgeschlagen, studiert und genossen zu werden, unseren Verstand zu erweitern.

Und wenn wir die Texte lesen, Texte von Menschen, die vergangen sind — und deren Sätze uns trotzdem so berühren wie die Herausforderungen des alltäglichen wie des überraschenden Lebens, ja mehr noch bisweilen, wenn wir diese Texte lesen, sie zu uns sprechen lassen, dann wissen wir sicher und ohne Zweifel, daß wir uns in einer Kette befinden von Anbeginn der Wörter über die babylonische Sprachverwirrung bis heute, und daß wir uns durch die Zeiten nahe sind, in Freuden, Leid, Schönheit, Tiefsinn und Komik. Diese Verständigung über die Zeiten hinweg mag zu einem uns bereichernden Selbstverständnis führen.

Auf der Webseite eines Antiquars entdeckte ich vor kurzem eine recht frühe, von Andreas Asulanus gedruckte und Anfang des 19. Jh. von einem französischen Meisterbuchbinder mit einem neuen Einband versehene Aldine: Der Buchblock wurde offensichtlich gewaschen, so daß er dabei mittels Feuchtigkeit und anschließender Pressung minimal aufgequollen sein mag. Somit, durch die Papierglätte, dazu fast fleckenfei, anmerkungslos und ohne Anstreichungen vermittelt er den kalten Eindruck eines wohlbekleideten Buchgolems, gerade erst einem Labor entkrochen, geschichtslos, kein Teil unseres Gedächtnisses, unserer Überlieferung — Bestandteil bloß einer Mode, der es vornehmlich um Aneignung und Anhäufung, nicht um Studieren wie Bewahren ging.

Wir Antiquare und Sammler gehören zu den Nutznießern von Gedächtnisreisen der Menschheit, wir bewahren, wir öffnen uns diesen Füllhörnern, ohne die menschliche Existenz kaum möglich wäre. Alles Selbstfinden gründet auf dem Wissen um das Gefundensein. Hier entdecken wir uns, in der Überlieferung, in den Büchern, an ihnen entwickeln wir uns.