Nider: Die 24 goldenen Harfen
Johannes Nider:
Incipit fol. I r: Hie hebt ſich an ds allernúczlicheſt bůch, genant | die vierundzweinczig gúlden harpffen, die mitt | fleiß auß der heiligen geſchrifft, vnd der altuäter | bůch durch einen hochgelerten doctor brůder hā|ſen Nyder brediger ordens zů Nürenberg alſo | gebrediget. (...)
Explicit fol. Clviij r: Hie endē ſich die vierundzweinczig gúldin harpff|en Die gezogen ſeind auß collationibus patrum, | das iſt auß der heiligen altuäter bůch &c Nach xƥi | geburt &c In dem lxxvj iare.
[Ulm: Johannes Zainer, 14]76.
Folio. 287 × 205 mm. [1], Cxlviij (recte Clviij) Blätter. – Lagenkollation: [α]1, [a]-[n]10, [o]8, [p]-[q]10. (-fol. [α]1, dies in Faksimile ergänzt). Mit schwarz eingedruckten Holzschnittinitialen: 24, teils wiederholten, zehnzeiligen ornamentierten Initialen (A 2; C 5; D 6; Rotunda-D 1; E 2; K 1; M 2; N 1; S 2; T 1; Z 1); einer vierzeiligen, figürlichen Initiale S; und 28 dreizeiligen (A 1; D 20; E 1; I 3; P 1; T 2). Gotico Antiqua: Zainers Type 3; einspaltig; 32-34 Zeilen; keine Kustoden oder Lagensignaturen.
lindgeprägter naturfarbener Schweinsledereinband der Zeit auf drei Doppelbünden und Holzdeckeln. Handgestochene blau/weiße Kapitale, eine Mittelschließe aus dickem, getriebenem Messingblech mit der Inschrift „man“ sowohl auf festem wie beweglichem Teil. Spiegel mit Blättern einer zweispaltigen, rot und blau rubrizierten Pergamenthandschrift des späten 13. Jh. bezogen. Die Deckel durch dreifache Streicheisenlinien eingeteilt in Rahmen und großes Innenfeld. Auf dem vorderen Deckel ist letzteres rhombenförmig durch parallel verlaufende, wiederholte Streicheisenlinien verziert. Auf den Außenecken des Vorderdeckels ein rhombisch umrandeter Stempel Greif; auf den senkrechten und waagrechten Randstreifen wiederholt ein rhombisch umrandeter Stempel heraldischer Adler, nach links blickend, ähnlich Schunke: Schwenke Slg. 245. Auf dem Mittelfeld zwölfmal wiederholt ein fast quadratischer, umrandeter Stempel Hirsch (24). Auf den Außenecken des hinteren Deckels ein rhombisch umrandeter Stempel Lamm (6 = Kyriß, Gruppe 126,3); auf den waagrechten und senkrechten Randstreifen jeweils dreimal ein runder, umrandeter Stempel Rosette (634); das Mittelfeld durch Stricheisenlinien in vier Rechtecke untergliedert, diese durch Diagonalen in jeweils vier Dreiecke, und in den entstandenen 16 Feldern jeweils ein tropfenförmiger, umrandeter Stempel Erdbeere (ähnlich Schunke 10).
Die verwendeten Stempel sowie der Stil verweisen den Einband eindeutig nach Ulm, in die Buchbindewerkstatt von Dinckmut und Mancz; cf. Amelung: Ulm, Abbildungen 142-145 mit einigen der hier verwendeten Stempel; Amelung: Konrad Dinckmut, der Drucker des Ulmer Terenz, pp. 16-18 & Abb. 9-12; Kyriss Gruppe 126 sowie Textband pp. 106-7; & Schunke/Rabenau p. 261 (Typ a). Dinckmut ist ab 1481 als Buchbinder in Ulm nachgewiesen, cf. Amelung: Ulm, pp. 152 & 197 sowie Nr. 104. Mancz Tätigkeit als Drucker in Blaubeuren endete 1478 bzw. 1479; für 1485 ist er bereits als Buchbinder nachgewiesen, cf. Amelung: Ulm, n° 101. Später agierte er als Buchführer. „Die Buchbinderwerkstatt Dinckmuts gehörte sowohl was die Anzahl der dort gebundenen Bände anbelangt als auch wegen ihres außerordentlich reichen Vorrats an Schmuckformen (Rollen und Stempeln) zu den größten und bedeutendsten bürgerlichen Werkstätten des 15. Jahrhunderts“ (Amelung: Dinckmut, p. 18). Einbandkunde
Der Dominikaner Johannes Nider (1380-1438), Doktor der Theologie zu Basel, Prior in Nürnberg und Basel, Generalvikar der oberdeutschen Provinz und Dekan der theologischen Fakultät in Wien, wirkte besonders für die Ordensreform. Er spielt eine bedeutende Rolle beim Basler Konzil, wo er 1431 die Eröffnungspredigt hielt, und war Legat des Konzils in Böhmen und auf dem Reichstag 1434; Breitenwirkung erzielten seine Handbücher für die praktische Seelsorge, ferner zeugen lateinische und deutsche Briefe von seiner Anteilnahme am monastischen und nichtmonastischen Leben. Von seinen gesellschaftskritischen Schriften ist der ’Formicarius’ mit der modellhaften Darstellung des Ameisenstaates die bekannteste. (cf. Hamberger IV,701-2; Jöcher III,933-4; LMA VI,1136 & Stammler/Langosch III,560ff.).
¶ Die „24 goldenen Harfen“ sind eine Paraphrase der „Collationes patrum“ des Johannes Cassianus (um 360 - 435; cf. Hamberger III,131 sqq.; LThK2 V,1016 sq. & LMA II,1550 sq.), die, geschrieben zwischen den Jahren 419 und 425, in 24 Büchern Unterredungen zwischen ihm, seinem Freund Germanus und angesehenen ägyptischen Anachoreten wiedergeben; wobei die Zahl 24 auf Offenbarung 4,4 sqq. zurückgeht. Diese Gespräche haben zweifellos stattgefunden, doch ist ihr Wortlaut durch Cassian verändert und sind die Lehren der Anachoreten systematisiert worden. Von großer Bedeutung sind die ‚Collationes‘ für Benedikt und die Einführung der Mönchsregeln des Ostens in das Abendland. Die vierundzwanzig Bücher illustrieren die Phasen geistig-religiösen Lebens in der direkten Hinwendung des Menschen zu Gott, behandeln aber auch Fragen wie ‚Gnade und menschliche Freiheit‘ (13. Coll.). Sie zeigen die geistige Bewegung vom äußeren Mönch bzw. Laien hin zu dessen innerer Verfassung, vom festgelegten Gebet hin zum ständigen, vom Unterscheiden der Geister, vom Unterdrücken der Versuchungen bis hin zu einem vollkommenen Leben. Theologisch ist Cassian von Euagrios, Origenes und anderen griechischen Lehrern des geistlichen Lebens abhängig, die durch seinen Text dem Westen vermittelt wurden.
¶ „Das interessanteste Dokument der volksprachlichen Aufnahme des Collators, zugleich das einzige mit großer Breitenwirkung, eines der erfolgreichsten Erbauungsbücher des 15. Jahrhunderts, sind die ‚Vierundzwanzig goldenen Harfen‘ des Dominikanermagisters Johannes Nider. Zwischen 1427 und 1429 in Nürnberg entstanden, ist es aus Predigten hervorgegangen. Nider gilt, zu Recht, nicht als Mystiker, auch nicht als literarischer Vermittler von Mystik, er hat nur wie viele seiner Zeitgenossen teil am namentlich durch Seuse geprägten und verfügbar gewordenen mystischen Sprachduktus.“ Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Erster Band, p. 137.
¶ In Zainers dritter Type sind nur fünf Bücher gedruckt, von denen dies als einziges datiert ist; cf. Amelung pp. 46 & 91; Abb. 22 & 23. Sie ist noch inspiriert von der Augsburger Schrift seines Bruders Günther, doch unterscheidet sich deutlich von ihr. Zu den schönen, ornamentierten Holzschnitt-Initialen siehe William Morris in „Bibliographica“, I, pp. 440-2.
Dritte Ausgabe. Amelung: Ulm, n° 26, p. 91 * Peter Amelung: Der Frühdruck im deutschen Südwesten. Band 1: Ulm. Stuttgart: Württembergische Landesbibliothek, 1979. – Hain 11849 – Voulliéme 2592 – Goff N224 – Graesse IV,674 – GW M26865 – ISTC in00224000 – Digitalisat der BSB – Bibliographien.
ider (Nieder, Nyder), Johannes
Vermutlich 1402 in das gerade durch Konrad von Preußen (de Grossis) reformierte Dominikanerkloster in Colmar eingetreten, wurde N. nach Studien in Köln und Wien (seit 1422) als Schüler des Franz von Retz 1425 zum Dr. theol. promoviert. 1428 begegnet er als Prior des Dominikanerklosters in Nürnberg und Vikar der bereits reformierten Klöster seiner Ordensprovinz. 1429 beorderte ihn der Generalmagister der Dominikaner nach Basel zur Reform des dortigen Klosters, dem er bis 1434 als Prior vorstand, und das unter N., der gleichzeitig als Generalvikar der oberdeutschen Provinz fungierte, binnen kurzer Zeit zu einem geistigen und moralischen Mittelpunkt der Teutonia wurde. Auf dem Konzil von Basel, dessen Eröffnungspredigt er am 27.7.1431 hielt, zählte N. zu den gemäßigten Papalisten und wirkte als Gesandter des Konzils in Böhmen. In mehreren Briefen (Mansi 29, S. 441-14, 613-17, 633 f., 643 f.) und in der noch ungedruckten Schrift ‚Contra heresim Hussitarum‘ fand seine Konzilstätigkeit ihren Niederschlag. Als führende Gestalt der Observanzbewegung in Deutschland verfaßte N. den programmatischen ‚Tractatus de reformatione Status coenobitici‘ und versuchte mit seinen Abhandlungen ‚De saecularium religionibus‘ und ‚De paupertate perfecta saecularium‘ auch die Reform des Säkularklerus zu befördern. Mit mehreren Handbüchern für die praktische Seelsorge, u. a. einem Beichthandbuch (Manuale confessorum), einer Auslegung des Dekalogs (Praeceptorium divinae legis), einem Abriß der menschlichen Laster (Tractatus de lepra morali), verschiedenen Trostbüchern und je einem Traktat über wahren und falschen Adel, rechten und Unrechten Kaufmannsberuf, wollte er vor allem Beichtväter und Prediger erreichen. Sein einziger Traktat in deutscher Sprache, das in freier Bearbeitung der ‚Collationes patrum‘ des Johannes Cassianus aus Predigten entstandene Erbauungsbuch ‚Die 24 goldenen Harfen‘, vermittelte einer volkssprachigen Leserschaft die scholastische Gnadenlehre. In der 1435-37 nach dem literarischen Vorbild des Bienenbuches (Apiarius) seines Ordensbruders Thomas von Cantimpré gestalteten modellhaften Darstellung des Ameisenstaates (Formicarius) entwarf N. ein allgemeines Sittengemälde seiner Zeit, in dem er auch auf die damals gerade im franz.-ital.-schweizer. Grenzgebiet entstandenen neuen Hexenvorstellungen hinwies; von Heinrich Kramer (Institoris) sind diese Informationen in seinen 1487 erschienenen Hexenhammer (Malleus maleficarum) integriert und so weiterverbreitet worden. Wohl im Frühjahr 1435 übernahm N. erneut seine Professur in Wien, 1436 amtierte er als Dekan der dortigen theol. Fakultät, zwei Jahre später starb er während einer Visitationsreise in Nürnberg und wurde im dortigen Dominikanerkloster neben dem Ordensgeneral →Raimund von Capua († 1399) bestattet. Als gelehrter Theologe, mitreißender Prediger und engagierter Verfechter einer Ordens- und Klerusreform genoß N. bei seinen Zeitgenossen hohes Ansehen. Etliche seiner Schriften wurden bis in das 17. Jh. hinein immer wieder gedruckt.
— Peter Segl: Nider, Johannes in: Neue Deutsche Biographie XIX (1999), p. 211 sq.
ider erscheint als prinzipientreuer Anhänger der observanten Kirchen- und Klosterreform, zu deren Schattenseiten die fanatische Bekämpfung der Häresien gehörte. Die bei zahlreichen Gelehrten des Spätmittelalters greifbare Angst vor einer fortschreitenden Dämonisierung der Welt, apokalyptisches Endzeitbewusstsein, Belagerungsmentalität und Verschwörungsdenken waren Nider ebenfalls nicht fremd (Tschacher 2001). Darüber hinaus ging es ihm um die moralische Disziplinierung möglichst der gesamten Bevölkerung und die Realisierung einer am observanten Vorbild orientierten christlichen Idealgesellschaft. Sein moralischer Rigorismus und Eifer für den christlichen Glauben veranlasste ihn zu unermüdlicher Predigt- und Seelsorgearbeit, brachte ihn aber auch mit der Inquisition in Berührung. Offenbar nahm er 1434 in Regensburg an der ‚peinlichen Befragung‘ einer der Ketzerei beschuldigten Frau teil (Form. III,7). Zu den Informanten Niders im ‚Formicarius’ gehörten die Inquisitoren Heinrich Kalteisen (tätig in den Diözesen Cambrai, später Lüttich, Mainz, Köln und Trier) und Peter Wichmann (tätig in Westpolen). Von dem Pariser Theologen Nikolaus Amici stammte der Bericht über den Jeanne d‘Arc-Prozess in Rouen 1431 (Form. V,8). Mit dem von dem Inquisitor Ulric de Torrenté geführten Freiburger Waldenserprozess von 1430 hatte zumindest vorübergehend ein anderer Gewährsmann Niders, der Prior des Dominikanerklosters Chambéry, Guido Flamochetti, zu tun. Einen Hinweis auf diesen Prozess sucht man freilich in Niders Schriften vergeblich. Selbst hat Nider das Amt eines Inquisitors zwar nicht ausgeübt, dennoch verbreitete er in seinen Predigten und katechetischen Werken, ausgehend von eigenen Wahrnehmungen und den Berichten von Augenzeugen, zahlreiche Nachrichten über die Auseinandersetzung mit den ‚Feinden der Religion’ (Form. III,1-9, IV,9). Das Basler Konzil diente vielen Teilnehmern gleichsam als informelle Nachrichtenbörse für diese Thematik (Bailey/Peters 2003; Sudmann, 2007). (...)
Bei Niders ‚Formicarius’ (Ameisenhaufen) handelt es sich um ein didaktisch angelegtes Handbuch, das eine Fülle von Beispielgeschichten (exempla) für den Predigtgebrauch enthält, die in Form eines Dialoges zwischen einem Priester in der Rolle des faulen Schülers (piger) und einem Theologen, dem alter ego des Autors, kommentiert werden. Die Exempel sollten dem Prediger möglichst anschauliches Belegmaterial für die von ihm vermittelten religiösen und moralischen Anschauungen zur Belehrung der Gläubigen an die Hand geben. Die von Nider vorgebrachten Erzählungen folgten damit weniger der Logik historischer Authentizität oder einem juristischen Interesse als der Topik rhetorisch vermittelter Moraldidaktik. Niders oberste Intention galt der Stärkung des christlichen Glaubens und der Sittlichkeit durch die exemplarische Vorführung guter und schlechter Taten wie auch wahrer und falscher Offenbarungen vorbildlicher oder lasterhafter Menschen.
Eng mit der Vorstellung belehrender Beispiele aus der Lebenswirklichkeit verbunden ist das von Nider der patristischen und scholastischen Literatur entnommene und im ‚Formicarius’ vermittelte Konzept der „Unterscheidung der Geister“ (discretio spirituum). Die Prüfung der menschlichen Seelenzustände und lebensweltlichen Grenzphänomene auf ihre Herkunft von Gott oder Teufel nutzte der dominikanische Theologe bei der Deutung von Offenbarungen, Visionen und Träumen und der Abgrenzung von wahrem Glauben, Häresie, Besessenheit und Geisteskrankheit. In Niders Verständnis erweiterte sich die Dämonologie quasi zu einer Experimentalwissenschaft – ein konzeptioneller Brückenschlag zwischen universitärer Theologie, Naturwissenschaft und Medizin, priesterlicher Seelsorge und Inquisition. In manchen Fällen würden, so Nider im letzten Kapitel des ‚Formicarius‘, unvorsichtige Inquisitoren (incautos inquisitores) Geisteskranke als Häretiker dem weltlichen Arm zur Hinrichtung übergeben, obwohl eigentlich ein Arzt hätte konsultiert werden müssen (Form. V,12). Im Kern ging es Nider wie anderen Dämonologen seiner Zeit (etwa Jean Gerson) um die Klärung von Fragen wie diesen: Welche sichtbaren Phänomene werden den Menschen mal von Dämonen, mal von Engeln vorgespiegelt? Wie bringen Dämonen und Zauberer physische Wirkungen zustande? Wie hängen von Geistwesen erzeugte Wahrnehmungen oder tatsächliche Effekte mit der Tugend- oder Lasterhaftigkeit bestimmter Menschen zusammen?
— Werner Tschacher: Nider, Johannes, in „historicum.net“, 2008.