Franz Kafka
Franz Kafka:
Siebenzeiliges Autograph, schwarze Tinte auf Papier, unten mit einer dreizeiligen Bleistiftnotiz von Max Brod.
Nach 1912, vor 1917.
228 × 145 mm.
Einseitig beschriebenes loses, kariertes Blatt.
Höchstwahrscheinlich, der Notiz von Max Brod unten auf dem Blatt zufolge, für Felice Bauer geschriebener Text, abgedruckt im dritten Briefband der Kritischen Kafka-Ausgabe (Frankfurt: S. Fischer, 2005) Seite 394 als Brief Nr. 1113, und zur Veröffentlichung in Band 16/II „Briefe und Materialien“ der historisch-kritischen Kafka-Ausgabe des Stroemfeld-Verlages zu Frankfurt/Main, der voraussichtlich 2012 erscheinen wird, vorgesehen. „Eines wollte ich noch sagen: es gab und gibt Augen-|blicke wo mir in Wirklichkeit oder aus der | Erinnerung, meistens ist es die Erinnerung an Deinen | auf mich gerichteten Blick, noch mehr als Du mir | wert bist und im Wesen Höheres hervorzubrechen | scheint, aber ich bin, wie auch sonst, zu schwach, es | zu halten oder ihm gegenüber mich zu halten.“ Unten von Max Brod: „[Entwurf eines | Briefes – wohl | an F.]“.
Eigentlich hier fehl am Ort, ich bot es nur in Kommission an und das Stück Papier wanderte zum Kommittenten zurück, nicht voran zu einem Kunden. Aber weil es sich um diesen Autor handelt, gewähre ich ihm eine Ausnahmeregelung.
Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: “Gehe hinüber”, so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge.
Darauf sagte einer: “Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei.”
Ein anderer sagte: “Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist.”
Der erste sagte: “Du hast gewonnen.”
Der zweite sagte: “Aber leider nur im Gleichnis.”
Der erste sagte: “Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.”
Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können:
Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können, außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.
Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.
Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.
Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.
Sie aber — schöner als jemals — streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie solange als möglich erhaschen.
Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.
Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.